Tandemstillen – zwei Kinder an der Brust: Beziehung, Balance und Besonderheiten

Meister Sabrina Still-und Laktationsberaterin IBCLC, Stillbeauftrage in Kliniken, Still- und Laktationsexpertin EISL, Familienberaterin InFanT

Was bedeutet eigentlich Tandemstillen?

Tandemstillen bedeutet, dass zwei Kinder unterschiedlichen Alters parallel gestillt werden – entweder gleichzeitig oder im Wechsel. In der Regel handelt es sich um ein Neugeborenes und ein älteres Geschwisterkind, das vor der Geburt des jüngeren noch nicht abgestillt wurde, manche sprechen auch bei Stillen von Zwillingen davon. 

In vielen Kulturen ist diese Form des Stillens selbstverständlich. In westlichen Ländern kommt sie seltener vor, wird aber zunehmend offener besprochen. Für viele Mütter ist Tandemstillen eine Möglichkeit, beiden Kindern Nähe, Sicherheit und die nährenden Aspekte des Stillens zu geben – ohne das ältere Kind abrupt entwöhnen zu müssen.

Wann spricht man vom Tandemstillen?

Von Tandemstillen spricht man, sobald eine Mutter zwei Kinder innerhalb derselben Zeitspanne stillt. Das kann direkt nach der Geburt des zweiten Kindes beginnen oder sich erst nach einigen Wochen ergeben. Oft ist es keine vorab geplante Entscheidung, sondern entwickelt sich aus den Bedürfnissen der Kinder und der Mutter.

Positive Aspekte für das ältere Kind

Das Weiterstillen kann dem älteren Kind den Übergang in die Geschwisterrolle erleichtern. Stillen bedeutet nicht nur Ernährung, sondern auch Beziehung, Verbindung und Regulation.

Vorteile für das ältere Kind können sein:

  • Sicherheit durch ein vertrautes Ritual
  • Kontinuität in einer Zeit großer Veränderung
  • Reduzierte Eifersucht
  • Gemeinsame Nähe mit Mama, auch wenn das Baby da ist

Studien zum Langzeitstillen, etwa die Übersicht in The Lancet (Rollins et al., 2016), zeigen, dass Stillen über das erste Lebensjahr hinaus mit einer stabileren Stressregulation assoziiert ist.

Veränderungen der Muttermilch während der Schwangerschaft

Wenn in der Schwangerschaft weiter gestillt wird, verändern sich Milchmenge und -zusammensetzung deutlich.

Rückgang der Milchmenge

Ab dem zweiten Trimester nimmt die Milchmenge bei vielen Frauen ab. Die steigenden Schwangerschaftshormone Progesteron und Östrogen hemmen das Prolaktin, das für die Milchbildung zuständig ist (Lawrence & Lawrence, 2016). Manche Kinder stillen seltener oder entwöhnen sich von selbst.

Trocken weiterstillen (Dry Nursing)

Manche Kinder stillen in dieser Zeit „trocken“ – also ohne nennenswerte Milchaufnahme. Das kann dennoch wertvoll sein: Es bietet Nähe, Trost und hilft bei der Regulation, besonders in Umbruchphasen wie der Geburt eines Geschwisterchens.

Veränderung der Zusammensetzung

Etwa zwischen der 16. und 20. Schwangerschaftswoche beginnt die Brust erneut Kolostrum zu bilden – eine hochkonzentrierte, nährstoffreiche Vormilch mit hohem Gehalt an Proteinen, Immunglobulinen und Beta-Carotin. Der Geschmack kann sich verändern, manche Kinder trinken dann weniger.

Studien wie Mendoza et al. (2014) zeigen, dass diese Veränderungen für das ältere Kind unbedenklich sind und das Neugeborene nach der Geburt ausreichend Kolostrum erhält.

Sicherheit

In einer komplikationsfreien Schwangerschaft ist Weiterstillen in der Regel sicher (WHO; Ayrim et al., 2014). Bei Risikoschwangerschaften sollte Rücksprache mit Fachpersonal gehalten werden.

Wie wirkt sich Tandemstillen auf das Baby aus?

Ein häufiger Irrtum ist, dass das Neugeborene zu wenig Milch bekommt. Die Erfahrung und wissenschaftliche Untersuchungen zeigen: Der Körper passt die Milchproduktion an den Bedarf beider Kinder an.

In den ersten Tagen nach der Geburt wird Kolostrum gebildet, das für das Neugeborene besonders wichtig ist. Selbst wenn das ältere Kind mittrinkt, wird die Qualität nicht gemindert. Der Körper priorisiert die Bedürfnisse des Neugeborenen.

Vorteile für die Mutter-Kind-Bindung

Tandemstillen kann die Bindung zu beiden Kindern stärken. Gerade in den ersten Wochen kann es entlastend sein, wenn das ältere Kind durch Stillen beruhigt wird, während das Baby gestillt wird. Manche Mütter berichten von harmonischen Momenten, in denen beide Kinder gleichzeitig trinken und körperlich verbunden sind.

Mögliche Herausforderungen

Tandemstillen bringt auch Herausforderungen mit sich:

  • Stillaversion beim älteren Kind
  • Körperliche Erschöpfung
  • Emotionale Ambivalenz, beiden gerecht zu werden
  • Gesellschaftliche Kritik oder Unverständnis

Hier hilft, die eigenen Grenzen ernst zu nehmen und klar zu kommunizieren. Stillzeiten können bewusst gestaltet oder begrenzt werden, um Überforderung zu vermeiden.

Geschwisterkonflikte und Tandemstillen

Tandemstillen kann Eifersucht reduzieren, da das ältere Kind nicht ausgeschlossen wird. Dennoch kann es zu Konkurrenzsituationen kommen. Klare Regeln, feste Reihenfolgen oder Rituale können helfen. Wichtig ist, dass die Mutter die Abläufe steuert und sich damit wohlfühlt.

Unterstützung und gesellschaftlicher Druck

Mütter, die tandemstillen, benötigen oft viel Rückhalt. Der gesellschaftliche Druck, das ältere Kind „endlich abzustillen“, kann enorm sein. Solche Kommentare können verunsichern, obwohl Tandemstillen bei gesunden Mutter-Kind-Paaren unproblematisch ist.

Unterstützungsangebote wie Stillgruppen, Stillberaterinnen (z. B. IBCLC), Online-Communities oder die La Leche Liga können wertvoll sein. Sie bieten fachliche Informationen, emotionale Stärkung und den Austausch mit anderen Müttern, die ähnliche Erfahrungen machen.

Fazit

Tandemstillen ist weder exotisch noch unnatürlich – es kann eine wertvolle Möglichkeit sein, zwei Kinder gleichzeitig körperlich und emotional zu nähren. Der Schlüssel liegt in der Selbstfürsorge der Mutter, klaren Grenzen und dem Vertrauen, dass der eigene Körper in der Lage ist, beide Kinder zu versorgen. Mit ausreichend Unterstützung kann Tandemstillen eine besonders bereichernde Familienerfahrung werden.

Literatur und weiterführende Ressourcen

  • Rollins, N.C., Bhandari, N., Hajeebhoy, N., et al. (2016). Why invest, and what it will take to improve breastfeeding practices? The Lancet, 387(10017), 491–504.
  • Mendoza, C., et al. (2014). Composition of human milk during extended lactation and the effect of tandem breastfeeding. Breastfeeding Medicine, 9(6), 318–323.
  • Lawrence, R.A., Lawrence, R.M. (2016). Breastfeeding: A Guide for the Medical Profession. Elsevier.
  • Ayrim, A., et al. (2014). Breastfeeding During Pregnancy and Tandem Nursing. Journal of Human Lactation, 30(4), 416–420.
  • La Leche Liga Deutschland: www.lalecheliga.de
  • Bumgarner, N.J. Mothering Your Nursing Toddler.
  • Mikosch, S. Ich still dich trotzdem.

 

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