Meister Sabrina Still-und Laktationsberaterin IBCLC, Stillbeauftrage in Kliniken, Still- und Laktationsexpertin EISL, Familienberaterin InFanT
Stillen gilt als etwas „Intuitives“. Als inniger, natürlicher Moment zwischen Mutter und Kind. Doch für viele Mütter ist genau dieser Moment plötzlich mit negativen Gefühlen verbunden: Unruhe, Ekel, innere Ablehnung. Wenn das passiert, sprechen wir von Stillaversion – ein Phänomen, über das bisher wenig öffentlich gesprochen wird, das aber überraschend viele Mütter betrifft.
Was genau ist eine Stillaversion?
Stillaversion beschreibt eine starke emotionale Reaktion während des Stillens. Typisch sind:
- das Bedürfnis, das Kind sofort von der Brust zu nehmen,
- innere Unruhe oder Aggression,
- Ekelgefühle oder das Gefühl, „es nicht mehr auszuhalten“,
- starke Abwehr, obwohl die Mutter ihr Kind liebt und weiter stillen möchte.
Die Reaktionen sind psychisch-emotional, nicht körperlich – also nicht vergleichbar mit Schmerzen durch falsches Anlegen oder Milchstau. Und sie treten oft plötzlich auf.
Warum spricht kaum jemand darüber?
Weil Stillaversion nicht in das klassische Bild von Mutterschaft passt. Die Erwartungen sind klar: Nähe, Intuition, Geduld. Wer beim Stillen Aggression oder Abwehr spürt, zweifelt schnell an sich selbst. Viele Mütter schämen sich für diese Gefühle oder fühlen sich schuldig. Deshalb bleibt das Thema meist unsichtbar – obwohl es viele betrifft.
Was sagt die Forschung?
Die wissenschaftliche Auseinandersetzung steckt noch in den Anfängen. Erste qualitative Studien, u. a. von der australischen Forscherin Zoe Faulkner, zeigen: Stillaversion betrifft eine relevante Zahl von Müttern – besonders häufig beim Tandemstillen, in der späteren Stillzeit oder in hormonellen Umstellungsphasen. Auch Erfahrungsberichte in Onlineforen und sozialen Medien machen deutlich: Es handelt sich nicht um Einzelfälle.
Was kann Stillaversion auslösen?
Es gibt keine einzelne Ursache. Vielmehr spielen mehrere Faktoren zusammen:
- hormonelle Veränderungen (z. B. während Zyklus oder Schwangerschaft),
- Überreizung durch Dauerkontakt, Schlafmangel oder Daueransprache,
- emotionale Überforderung oder fehlende Selbstbestimmung,
- der Wunsch nach mehr körperlicher und mentaler Autonomie.
Stillaversion ist kein „Fehler“ oder Zeichen für fehlende Mutterliebe.
Sie ist eine nachvollziehbare Reaktion auf Dauerbelastung – körperlich, emotional und mental.
Abstillen – aus Überforderung oder aus Klarheit?
Viele Mütter, die Stillaversion erleben, entwickeln zunächst einen Abstillwunsch. Der Gedanke: „Ich kann einfach nicht mehr.“ Das ist verständlich – und oft der erste Impuls, wieder Raum für sich selbst zu schaffen.
In der Beratung zeigt sich allerdings häufig: Wenn Mütter verstanden werden und wieder mehr Kontrolle über das Stillen zurückbekommen, verändert sich auch das Empfinden. Wenn klar ist, wann gestillt wird, wie lange, unter welchen Bedingungen – kann sich Stillen wieder stimmig anfühlen.
Der Wunsch nach einem Ende ist dann nicht mehr zwangsläufig da. Manchmal wird dann bewusst weitergestillt – mit neuen Grenzen. Und manchmal ist ein achtsames, begleitetes Abstillen genau der richtige nächste Schritt. Beides ist in Ordnung.
Was kann helfen?
1. Die Gefühle ernst nehmen.
Stillaversion ist keine Einbildung. Es ist eine reale Reaktion – und sie darf da sein.
2. Verantwortung teilen.
Du musst nicht alles allein regeln. Austausch mit Stillberaterinnen, Hebammen oder Familienberatungsstellen kann entlasten – auch einfach nur, um gehört zu werden.
3. Struktur schaffen.
Viele Mütter erleben Entlastung, wenn das Stillen wieder planbar wird – z. B. durch feste Zeiten, Rituale oder klare Kommunikation mit älteren Stillkindern.
4. Den eigenen Körper wieder spüren.
Pausen, Alleinzeit, körperliche Autonomie. Kleine Rituale zur Selbstregulation helfen, sich nicht völlig aufzulösen.
5. Abstillen darf ein Prozess sein.
Wenn Abstillen die richtige Entscheidung ist, darf es schrittweise und liebevoll verlaufen – ohne Druck und ohne schlechtes Gewissen. https://schwerelos-familienbegleitung.com/was-bedeutet-beduerfnisorientiertes-abstillen-und-wieso-es-bedeutsam-fuer-euch-als-familie-sein-kann/
Warum ist Stillaversion auch ein Thema aus der Familienberatung?
Stillaversion ist oft Ausdruck eines größeren Themas: der Herausforderung, in der Mutterschaft eigene Grenzen zu wahren und Bedürfnisse erkennen.
Es berührt wichtige Fragen wie:
- Wann darf ich „Nein“ sagen?
- Wie erkenne ich meine Belastungsgrenzen und meine Bedürfnisse?
- Wie kann ich gut für mein Kind sorgen, ohne mich selbst zu verlieren?
Stillaversion zeigt, dass die Balance zwischen Beziehung/Verbindung und Abgrenzung neu verhandelt werden darf. Familienberatung kann helfen, Überforderung sichtbar zu machen, Care-Arbeit gerechter zu verteilen und Müttern Wege aufzuzeigen, wie sie selbstbestimmt in ihrer Rolle stehen können – auch als stillende Mamas.
Stillaversion oder D-MER? Warum die Unterscheidung wichtig ist
Viele Mütter, die beim Stillen plötzlich innere Ablehnung, Traurigkeit oder Unruhe erleben, fragen sich: Was ist mit mir los? Zwei Phänomene können eine Rolle spielen, die oft verwechselt werden, aber unterschiedliche Ursachen und Begleitung benötigen: Stillaversion und D-MER (Dysphoric Milk Ejection Reflex).
Stillaversion ist eine emotionale Ablehnung gegenüber dem Stillvorgang selbst – ausgelöst durch mentale Überforderung, mangelnde Abgrenzung oder Reizüberflutung.
D-MER ist ein hormonell bedingtes, kurzes emotionales Tief, das unmittelbar mit dem Milchspendereflex einsetzt. Betroffene spüren für Sekunden bis Minuten Gefühle von Leere, Traurigkeit oder Verzweiflung – ein körperlich erklärbarer Reflex.
Warum ist der Unterschied wichtig?
Weil Müttern das Verständnis ihrer eigenen Erfahrung erleichtert – und gezielte Unterstützung ermöglicht:
- Stillaversion: Meist braucht es emotionale Entlastung, mentale Unterstützung und ggf. Familienberatung.
- D-MER: Hier hilft vor allem Aufklärung über den körperlichen Prozess und Strategien, die Dopamin-Regulation zu stabilisieren.
Beide Phänomene sind real, ernst zu nehmen und kein Zeichen von Schwäche oder fehlender Bindung zum Kind.
Weiterführende Informationen zu D-MER
Für betroffene Mütter und Fachpersonen bietet die Website www.d-mer.info umfassende Informationen zum Dysphorischen Milchspendereflex. Die Plattform wurde von Doris Kubicka, IBCLC und diplomierte Familienbegleiterin, ins Leben gerufen und stellt deutschsprachige Informationen sowie Begleitmaterialien bereit.
Fazit: Du bist nicht allein
Viele Mütter erleben Stillaversion. Manche nur für einige Wochen, andere über Monate hinweg. Manche stillen danach weiter, andere hören auf – und beides ist in Ordnung.
Was wirklich hilft: darüber sprechen. Anerkennen, dass Stillen nicht immer leicht ist. Und dass du als Mutter nicht perfekt sein musst, um alles richtig zu machen.
Stillaversion ist kein Ende, sondern oft der Anfang eines bewussteren, selbstbestimmteren Weges. Ob Weiterstillen unter neuen Bedingungen oder achtsames Abstillen – du darfst entscheiden, was gut für dich und dein Kind ist.
Quellen
- Faulkner, Z. (2018). Exploring the phenomenon of breastfeeding aversion response: A qualitative study. [Abstract].
- Glover, V., & Brockington, I. F. (2001). Postpartum psychiatric disorders. The Lancet.
- Doris Kubicka: www.d-mer.info
- Doris Kubicka: www.doriskubicka.at
- Stillaversion Erfahrungsberichte: Verschiedene Onlineforen und Social Media Gruppen, z. B. Stillnetzwerk e.V., Babyforum.